Was Luft und Raumtemperatur mit einem Bier anstellen können.
2011, im von der UN erklärten Internationalen Jahr des Waldes, stellten Axel Kiesbye und die Österreichischen Bundesforste ein kleines Projekt vor: das Waldbier. Jahr für Jahr ein Kreativbier, eingebraut in Obertrum und immer mit einer ganz bestimmten Zutat aus den Wäldern des Landes. Hier soll aber nicht auf das Projekt an sich eingegangen werden – darüber wurde bereits ausführlich berichtet. Was uns viel mehr interessiert hat, ist die Frage, ob die dabei entstandenen Biere wirklich so lagerfähig sind, wie stets behauptet wird. Denn bei jeder Präsentation wird mantraartig betont: »Aufgrund der besonderen Brauweise verfügt das Waldbier über eine ausgezeichnete Lagerfähigkeit und kann mehrere Jahre bis zum Genuss aufbewahrt werden.«
Wir wollten es genau wissen und haben Axel Kiesbye gefragt, ob er noch genug Flaschen für eine Vertikalverkostung zurück zu den Ursprüngen des Waldbier-Projekts habe. Er hat daraufhin sein Archiv und seinen Bierkeller geplündert und fast alle Jahrgänge aufgetrieben. Im Oktober 2021 haben wir dann (fast) alle Waldbiere verkostet.
Komplexität in Richtung Waldzutat
»Die Komplexität verschiebt sich in Richtung der Waldzutat. Die alkoholischen Noten, die Bitterstoffe und vor allem auch die Hopfenöle bauen ab. Und dann kommt das Harzige aus dem Hintergrund durch. Es fehlt dann allerdings die Matrix, die Struktur. Was dazu führt, dass die Biere oft leer und irgendwie langweilig wirken.«
Axel Kiesbye
Zu Beginn ist Axel Kiesbye sichtlich gespannt. Fast ein wenig angespannt. Die Verkostung seiner Waldbiere zurück bis zum Jahrgang 2013 ist auch für ihn eine Premiere: »Die Komplexität verschiebt sich in Richtung der Waldzutat. Die alkoholischen Noten, die Bitterstoffe und vor allem auch die Hopfenöle bauen ab. Und dann kommt das Harzige aus dem Hintergrund durch. Es fehlt dann allerdings die Matrix, die Struktur. Was dazu führt, dass die Biere oft leer und irgendwie langweilig wirken.« So weit, so vorgebaut. Bloß die Erwartungen nicht zu hoch anlegen, dann fällt die Enttäuschung nicht so groß aus. Die Biere stehen stramm in einer Reihe, das älteste aus dem Jahr 2013 ganz links. Am anderen Ende das mehr oder weniger frisch abgefüllte Tiroler-Bergwald-Bier aus 2021.
Nur die ersten beiden Waldbiere aus 2011 und 2012 (Tanne und Zirbe) fehlen in der Reihe. Von diesen Jahrgängen war kein Exemplar mehr in der Brauerei aufzutreiben. Also starten wir mit 2013 – der Lärche. Beim Brauen wurden hier als Waldaroma-Zutat Lärchenwipfel verwendet. Das sind die jungen, hellgrünen Triebe, die im Frühjahr an den Zweigspitzen wachsen. Geerntet wurden sie in einem Revier der Bundesforste im Ausseerland am Fuß des Dachsteins.
Kiesbye erinnert sich, dass das Bier, ein Strong Ale mit einem Alkoholgehalt von über acht Volumenprozent, in dessen Jugend deutlich heller war. Jetzt strahlt es in satten, brillanten Orangetönen aus dem Glas. Es zeigt wenig Schaum und das kleine Schäumchen, das sich beim Einschenken bildet –mehr ist es nicht – zerfällt schnell. Das ist allerdings auch nicht verwunderlich – immerhin ist Alkohol (und davon hat das Lärchenwaldbier eine ganze Menge) ein Schaumkiller. In der Nase zeigt das Bier eine erstaunliche Frische sowie eine Komplexität und Vielfalt, die verblüfft. Wir können Bienenwachs und Propolis, weihnachtliche Gewürze, getrocknete Früchte und sogar Himbeernoten wahrnehmen, die sich mit der Zeit und der Luft im Glas entwickeln. Dazu, vor allem am Gaumen dann, Sherry-Töne, feinperlige Finesse und dezente Bitternoten. Dann wieder eine zarte, filigrane Honignote. Und dabei frisch ohne Ende. Zweifelsfrei eine Überraschung und ein ziemlicher Paukenschlag als Auftakt. Jetzt ist auch Axel Kiesbye deutlich entspannter als noch vor einer Viertelstunde.
Anfängliche Spannung verflogen
Als Nächstes kommt der Jahrgang 2014 ins Glas – Schwarzkiefer. Die Schwarzkiefer ist eng mit dem Brauwesen verbunden. Der Baum hortet in seinem Stamm stattliche Mengen an Harz. So viel, dass Brauereien damit ihre Holzfässer abdichteten. Kiesbye sammelte für dieses Bier junge Zapfen im Wienerwald und gab sie in den Sud. Gemeinsam mit Aurora-Hopfen und Karamellmalz. Bei seiner Präsentation strahlte das Waldbier in voller Frucht. Exotische Noten von Maracuja und Papaya waren ebenso wahrnehmbar wie eine kantig-nussige Note. Fast wie Schoko-Nuss-Crème. Dazu elegant würzige Noten. Am Gaumen dann leicht süßlicher, rotfruchtiger Antrunk, der an Traubenkirsche und Schokolade erinnert. Mon Chéri, so in der Art.
Warum ich hier in meinen Aufzeichnungen aus 2014 krame und sie so umfangreich wiedergebe? Weil nichts davon übrig ist. Nichts. Nada. Dabei ist das Schwarzkiefer das stärkste aller Waldbiere. Nach ihm ging es mit den Prozenten wieder bergab. Farblich ist es dem Lärchenbier nicht unähnlich. Sattes, strahlendes Orange, wenig Schaum. Nach dem ersten Hineinriechen drucksen wir ein bisserl herum, suchen wertschätzende Worte, wo man eigentlich … Kiesbye sagt es dann: »Im Vergleich ziemlich langweilig.« Das erleichtert. Nicht dass es schlecht wäre, aber es fehlen Spannung, Aroma, Säure und Struktur. Überhaupt nach etwa einer halben Stunde im Glas – da ist das Schwarzkiefer-Waldbier nur noch ein Schatten seiner selbst. Schade. Aber die good vibes, die die Lärche ausgelöst hat, halten an, und die Neugier auf die nächsten Jahrgänge ist groß.
Mit neuen Noten
Waldbiermäßig markiert der Jahrgang 2015 das Ende der Nadelbaumära. Ob es die unglaubliche Patzerei mit dem Fichtenharz gewesen ist oder der Wunsch auch andere Bäume zu ehren, lässt sich aus heutiger Sicht nicht mehr genau sagen. Fakt ist, dass die Noten und Aromen, die das Waldbier Fichte damals ausgemacht haben, auch heute noch präsent sind. Etwas angegraut vielleicht, aber immer noch da. Am Beginn seiner Karriere zeigte es zitrusfrische Orangennoten, etwas Kirstein Blockmalz und leicht laktische Joghurttöne. Aus den Orangen wurden Äpfel und aus dem Blockmalz feine Wälder Schokolade (dieser einzigartige und karamellbombige Molkekäse aus dem Bregenzerwald). Dazu kommt eine hochfeine Fichtennote mit etwas Honig. Honig war auch vor sechs Jahren schon ein Thema. Jedenfalls ist die Fichte immer noch ein komplexes Bier mit langem Abgang. Eines, das den Durchhänger, den uns die Schwarzkiefer beschert hat, schnell vergessen macht.
Für die 2016er-Edition, mit der Wacholder-Basis, ging Kiesbye den Berg hinab. Quasi eine Etage tiefer im Wald. Der Wacholder, mehr Strauch als Baum, ist – biologisch gesehen – ein Zypressengewächs. Für das Waldbier mussten gleich zwei Zypressenkörperteile herhalten. Zur Würze kamen 15 Kilo Wacholderzweigerl aus den Wäldern Salzburgs. Später in den Lagertank (also ins fast fertige Bier) noch einmal ein paar Kilo Wacholderbeeren. Zapfen eigentlich, denn botanisch betrachtet sind die kleinen Wacholderbeeren Zapfen. Allgemeinsprachlich ist der Unterschied irrelevant. Oder anders ausgedrückt: Zigtausend Gewürzverpackungen können nicht irren.
Wer sich damals bei der Präsentation Bier mit Gin-Geschmack erwartete, wurde leicht enttäuscht. Das Strong Ale (7,2 Vol.-%) roch und schmeckte eher nach Orangenzeste und Hefeteig – irgendwie weihnachtlich. Auch am Gaumen viel süßer als alle Waldbiere davor. Kompakt und dicht. Fast wie ein Dresdner Stollen. Dann, wenn man durch den Stollen durch war, kam erst der Wacholder. Leise, im Hintergrund. Wie das helle Läuten des kleinen Glöckchens im Wohnzimmer, wenn das Christkind da ist.
Geändert hat sich nicht nur die Herkunft der Waldzutat, mit dem Wacholder hat Kiesbye erstmals auch die Welt der dunklen, harzigen Noten verlassen. »Mit dem Wacholder spielt erstmals eine Beere als Waldzutat die Hauptrolle. Das bedeutet, dass das Bier erstmals klar weg vom Harz ist. Das heißt aber auch, dass wir unsere Komfortzone verlassen haben. Beim Harz wussten wir, woran wir sind und wie es funktioniert. Die Wacholderbeeren waren dagegen Neuland«, erinnert sich der Brauer.
Inzwischen dominiert jedenfalls die Honignote. Fast wie Zuckerrübensirup. Oder Malzsirup aus gemälztem Getreide. Spannend eigentlich, aber auch ein wenig eindimensional.
Ein zweiter Blick zurück
In der Zwischenzeit kosten wir zurück. Die Fichte entwickelt im Glas kräftige, fruchtige, fast dropsige Noten, die Lärche, das älteste Bier und am längsten im Glas, steht stramm und aufrecht, während sich die Schwarzkiefer zwischenzeitlich still und klammheimlich von der Welt verabschiedet hat. Sagenhaft, wie groß die Unterschiede sind. Der nächste Kandidat ist die Wilde Kirsche aus dem Jahr 2017. Es ist mittlerweile das siebte Waldbier von Axel Kiesbye und den Bundesforsten. An diesem Nachmittag ist es die Nummer fünf. Zur Aromatisierung wurden Kirschblüten verwendet. Genauer gesagt, die weißen Blütenblätter der Traubenkirsche aus dem Revier in Hermagor. Sie wurden zuerst in einer Zuckerlösung erwärmt und haltbar gemacht, milchsauer angegoren und dann zur Stammwürze gegeben.
Das Verwenden von Kirschblütenblättern ist keine neue Erfindung. Jahr für Jahr hyperventilieren die Japanerinnen und Japaner während der Kirschblüte (Stichwort »Sakura«) und aromatisieren so gut wie alles mit Kirschblütensirup. Wein, Wasser, Kekse, Limonaden, Sake und auch Bier. Meist ist das allerdings eine süße, blumige Pampe, die nach Zucker schmeckt, nach Kirschblüten riecht, sonst aber nicht viel zu bieten hat. Das Waldbier ist da zum Glück anders. Ja, klar sind da florale Noten. Auch ein Hauch Marzipan. Damals wie heute. Aber eher subkutan. Unterschwellig. Dafür sorgt der Monroe-Hopfen mit seinen intensiven Steinobst- und Grapefruitnoten. Heute ist die Wilde Kirsche ein in sich rundes und ruhendes, recht cremiges Ale mit dezenter Süße. Macht Spaß.
Von den Früchten getragen
Die nächsten beiden machen wir in einem Schwung. 2018 übernahm die Holzbirne den Part der Waldzutat, 2019 die Elsbeere. Während die Holzbirne ein (birnen-)holzfassgereiftes und mit Blättern, Blüten und Kletzen aromatisiertes Ale ist, ist die Elsbeere ein fruchtiges Rotbier. Beide Biere werden immer noch von ihrer Frucht getragen. Die Elsbeere mehr als die Holzbirne. Beide sind deutlich frischer und jugendlicher, aber auch nicht so komplex und tiefgründig wie die älteren Semester in der Reihe. An dieser Stelle kosten wir wieder zurück und schauen, wie sich die Biere im Glas innerhalb der letzten knappen Stunde verändert haben. Und siehe da: Die Schwarzkiefer ist von den Toten auferstanden. Plötzlich ist da wieder – ganz leise – dieser verführerische Schokoton und eine reife Kirschnote. Etwas morbid vielleicht, aber immer noch – beziehungsweise wieder – da. Unglaublich, was Luft und Raumtemperatur mit einem Bier anstellen können.
Würdiger Abschluss aus dem Wald
Wir wechseln zum letzten Bier des ersten Waldbierjahrzehnts. Ein würdiger Abschluss, immerhin kommt die »Waldzutat« für den Jahrgang vom Baum der Bäume: von der Eiche. Konkret von einer 2015 gefällten und 200 Jahre alten Traubeneiche, aus deren Holz das Fass für die Reifung des Waldbiers gemacht wurde. Das Waldbier 2020 ist eines der jüngsten Biere in der Serie. Trotzdem braucht es für den Genuss viel Luft. Dann gibt es preis, was ein Barriquefass kann: zarte Röstaromen und Noten von Vanilleschoten. Marillenröster, Rumtopf, rustikaler, dunkler Waldhonig. Man spürt, dass das Barrique dem Bier Struktur und Halt gibt, ohne zu viel ins aromatische Geschehen einzugreifen. Der Hopfen setzt knackig-frische Akzente und wirkt, vor allem im Zusammenspiel mit dem üppigen Körper, fast wie Limoncello. Groß ist der Unterschied zwischen der Verkostung vor einem Jahr und heute nicht. Mit dem Jahrgang 2021 wurde die Ausrichtung der Waldbiere noch einmal gewechselt. Das Thema heißt jetzt Herkunft und das Bier Tiroler Bergwald. Mit Schwarzbeeren (Moosbeeren, wie die Tirolerinnen und Tiroler sagen) und Zirbenzapfen. Mit den Zirben kommt das Harzige zurück ins Waldbier, mit den Beeren die Frucht. Gekostet haben wir es auch. Eh sehr gut. Aber eben ein Jungspund und damit für unsere Fragestellung unbrauchbar. In ein paar Jahren, bei der nächsten Vertikale schauen wir, was aus dem Tiroler Bergwald geworden ist.