Die eiskalte Seele des Apfels, der Hopfen und das Staunen der Barone. Sie tragen rot-schwarze Trachtenanzüge und große Hüte mit einer weißen Feder. Ihr Leben haben sie der Mostbirne verschrieben. Sie sind die Elite der österreichischen Mostbauern. Einmal im Jahr zapfen die Mostviertler die Fördermittel der EU an und fliegen in Gegenden, in denen noch kein niederösterreichischer Mostbauer zuvor gewesen ist, um ihren Kollegen in den Obstgarten zu schauen. Genau genommen fliegen sie überall dorthin, wo aus Kernobst Alkohol gemacht wird. Ob Cider, Most oder Schnaps ist dabei erst einmal sekundär. Im vergangenen Herbst waren sie in Amerika und Kanada auf den Spuren verschiedener Cider-Spezialitäten und haben hier wie dort gestaunt, was Frost und Hopfen aus Most machen können.
Canada first
Wer Ice Cider (egal, ob aus Äpfel oder Birnen) einmal probiert hat, wird ihn nicht so schnell wieder vergessen. Strahlendes Goldgelb, kristallklare Kernobstnoten, knackige Säure und feine Fruchtsüße. So filigran und so präzise, dass Ferran Adrià ihn im El Bulli als Begleitung für einige seiner ebenfalls filigranen und präzisen Gerichte servieren ließ. Allerdings war das damals eher Avantgarde. Die Zahl der Restaurants in Europa, in denen kanadischer Ice Cider auf der Karte stand, war überschaubar.
Es ist nicht einfach nur süßer Most, der nach einem ähnlichen Prinzip wie Eiswein hergestellt wird. Vielmehr verändert sich der Apfel und zeigt Aromen, die Hard Cider, der große und trockene Bruder nicht hat. Beobachtet hat das vor 150 Jahren bereits der große Wanderer und Aussteiger Henry David Thoreau: „Let the frost come to freeze them first, solid as stones, and then the rain or a warm winter day to thaw them, and they will seem to have borrowed a flavour from heaven.“
Die Geschichte der Ice-Cider-Produktion in Kanada beginnt in den frühen 90er-Jahren. Zwei Männer müssen in diesem Zusammenhang erwähnt und hervorgehoben werden. Pierre Lafond von der Cidrerie Saint-Nicolas in der Nähe von Quebec und Christian Barthomeuf von Clos Saragnat in Frelighsburg. Die beiden arbeiteten unabhängig voneinander, und anfangs war von Ice Cider noch nicht die Rede. Die ersten süßen Ciders, die sie auf den Markt brachten, hießen Strong Sweet Cider, Cidre Fort oder Cidre Licoreux. Barthomeuf begann 1996 mit der Cidrerie La Face Cachée de la Pomme (heute Domaine Neige) und später mit Pinnacle zu arbeiten. Beide sind mittlerweile die Big Player am Ice-Cider-Markt, produzieren enorme Mengen und exportieren ihre Produkte in aller Herren Länder. Der andere, Pierre Lafond, war der Handwerker. Er entwickelte und perfektionierte das Verfahren, bei dem Ice Cider nach dem Vorbild deutscher und kanadischer Eisweine aus natürlich gefrorenen Äpfeln gepresst wird. Dieses Verfahren ist aufwändig, erfordert eine gewaltige und robuste Presse und ist darüber hinaus vom Wetter abhängig. Für die Produktion großer Mengen ist sie daher denkbar ungeeignet.
Das Prinzip dabei ist ziemlich einfach. Es beruht auf der Tatsache, dass zuckerhaltige Lösungen bei geringeren Temperaturen frieren als Wasser. Oder anders formuliert, zuerst gefriert das Wasser, der Most bleibt flüssig. Das handwerkliche Verfahren, bei dem ganze Äpfel im Spiel sind, heißt Cryo Extraction. Die ganzen gefrorenen Äpfel werden dabei gepresst, der konzentrierte Most wird abgeleitet und vergoren. Das Frieren der Äpfel kann auf zwei Arten erfolgen. Entweder sie bleiben am Baum hängen bis der Frost kommt und sie durchgefroren geerntet werden oder, was viel häufiger vorkommt, sie werden im Herbst geerntet, kommen in offene Holzkisten und bleiben so lange kühl gelagert, bis es draußen kalt genug ist. Dann kommen sie ins Freie. In Quebec ist das normalerweise ab Ende November. Nachdem für das Pressen komplett gefrorener Äpfel eine spezielle Presse verwendet werden muss, kommen in den Cideries, die über keine derartige Presse verfügen die Äpfel zuerst in eine Mühle und werden zerkleinert, bevor sie gepresst werden.
Das zweite Verfahren heißt Cryo Concentration. Dabei werden die Äpfel nach der Ernte eine Zeit lang gelagert, bis es draußen kalt genug ist. Dann werden die – nicht gefrorenen – Äpfel gepresst und der junge Most muss in die Kälte. Jetzt bildet sich eine dicke (eine sehr dicke) Eisschicht oberhalb des konzentrierten Mosts. Das Prinzip ist das gleiche. Nur werden hier keine Äpfel gepresst, sondern es wird eine Flüssigkeit konzentriert. Der nächste Schritt ist wieder bei beiden Verfahren gleich. Der konzentrierte Most wird vergoren und liefert jenen filigran-fruchtigen, verspielt süßen und von spitzer Säure geprägten Apfel-Dessertwein.
Offen ist noch die Frage, ob die erforderliche Kälte natürlich sein muss. Diese Frage mag hierzulande in den Ohren weinrechtsbewanderter Trinker seltsam klingen. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich ist künstliches Einfrieren der Trauben für den Eiswein verboten. Die Québécois sehen das genauso. In den Produktionsrichtlinien für Ice Cider des Dachverbands Cidre du Québec ist natürlicher Frost vorgeschrieben.
1 Austro, 2 Kanadier
Michel Jodoin ist der Präsident der Cidriculteurs artisans du Québec. Das ist ungefähr das, was in Italien oder Frankreich die Konsortien sind. Die Hüter der Qualität und der Herstellungsrichtlinien. Michel ist aber nicht nur Vereinsmeier. In seiner Cidrerie in Rougemont verarbeitet er Äpfel aller (und alter) Sorten zu Cider, Sparkling Cider, Rosé Cider, Brandy, Pommeau und Apfelsaft. Sein Ice Cider aus der kirschrotfleischigen und überaus seltenen Sorte Geneva ist der einzige Rosé-Cider der Welt. Dessen Geschmack ist nicht minder einzigartig. Kandierte Apfelfrucht, reife Erdbeere, am Gaumen Gerbstoff ohne Ende und dabei verführerische, üppige Süße. Jodoin hat sich der Sorte Geneva übrigens so sehr verschrieben, dass er sie auf einem Drittel seiner Obstgartenfläche ausgepflanzt hat. Ein Sortenrettungsprogramm mit dem Ergebnis, dass dort jetzt die größte Geneva-Plantage in Nordamerika steht.
Ein paar Kilometer südwestlich von Québec liegt am südlichen Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms der kleine Ort Saint-Nicolas. Hier haben Patricia und Pierre Lafond (wir haben ihn am Beginn des Beitrags als einen der Pioniere der Ice-Cider-Produktion kennengelernt) ihre Ciderie und machen handwerklich herausragende Ciders. Die Produkte sind so rustikal wie die Flaschen und Etiketten und trotzdem ist da eine Leidenschaft zu spüren, die ansteckend ist. Der Ice Cider wird nach der traditionellen Methode aus dem Most durchgefrorener Äpfel hergestellt. In einem der hinteren Gebäude haben die Lafonds dafür auch ein gewaltiges Monstrum stehen. Eine Presse, die die steinharten Äpfel zermalmt, als wären sie aus Baiser. Den Pioniergeist kann Pierre Lafond nicht ablegen. 2013 hat er damit begonnen, dem Apfelmost das Wasser nicht nur mit Frost, sondern auch mit Feuer auszutreiben. Fire Cider oder Cidre du Feu nutzt das gleiche Prinzip: Das Wasser muss weg. Das Verfahren, den Most zu erhitzen und damit zu konzentrieren wurde in den 90er-Jahren angewandt, um Sirup zu erzeugen. Wenn man den Sirup allerdings nicht ganz so stark konzentriert, kann er auch noch vergoren werden, und genau das hat Pierre Lafond gemacht. Das Ergebnis ist zumindest nicht uninteressant und hat Potenzial.
Eis.Birne
Und die Mostbarone? Die kamen aus dem Staunen nicht heraus. Sie kannten das Produkt natürlich. Vor ein paar Jahren haben sie die Normandie besucht. Dort hat ihnen der große Eric Bordelet einen grandiosen leuchtend orangen Poiré de Glace zu kosten gegeben. Irgendwie muss es da bei Toni Distelberger, der zuletzt mit seinem Genussbauernhof Distelberg am Craft Bier Fest Wien im Mai zu Gast war, gefunkt haben. „Kann ich auch“, hat er sich gedacht, und vor Kurzem hat er seine Eis.Birne präsentiert. Einen Birnensüßwein, hergestellt aus dem Saft alter Mostviertler Birnensorten, gefroren in der klirrenden Kälte niederösterreichischer Winternächte. Ein wenig Honig, ein wenig Kletztenbirne. Wenig Alkohol. Ein spannender Begleiter für fruchtbetonte Desserts. Natürlich hat er was zum Kosten für die Kanadier im Janker gehabt. Und sie haben gekostet. Ein Schluck, ein Blick und der Toni wusste, dass er es auch kann.
Hoppy USA
Dann war da allerdings noch der Besuch der Franklin County Cider Days. Der war chronologisch zwar vor Kanada, ist hier aber nach hinten gerutscht. Erstens, weil es mir ein Anliegen war, einmal „Canada first“ zu schreiben, zweitens, weil Toni Distelberger nach der Tour zuerst seine Eis.Birne und dann erst seine beiden gehopften Birnen-Ciders vollendet hat. Aber der Reihe nach. Die zweite Entdeckung der USA/Kanada-Exkursion ist der Hopped Cider. Also mit Hopfen aromatisierter Cider Das könnte man als avantgartistische Spinnerei abtun, ist es aber nicht. Dahinter steckt eine klare Idee.
Claude Jolicoeur, der Godfather of All Craft Ciderists, hat eine klare Vorstellung, aus welchen Sorten Cider zu keltern ist. Seine „perfekten“ Äpfel haben einen hohen Fruchtzuckergehalt und Gerbstoff sowie Säure im mittleren Bereich. Diese Sorten haben das Potenzial, sortenreinen Cider in guter Qualität zu liefern. In Quebec, dem Raum seines Schaffens, heißen seine Lieblingssorten Bilodeau, Bulmer’s Norman und Lobo. Manchmal werden allerdings Sorten verwendet, bei denen der Tannin-Anteil, also der Gerbstoff, ein wenig unterentwickelt ist. Diesen Ciders fehlt es dann oft an Druck im Finish, an Körper und Substanz. Um dieses Manko auszugleichen, bekommen die Ciders eine Portion Hopfen ab. Das Ganze begann ungefähr 2005, und im Durstsog hopfengestopfter Craft-Biere verbreitete sich das Hopped-Cider-Ding in eindrucksvoller Geschwindigkeit.
In Herefordshire, England, braut Tom Oliver seinen At the Hop mit der Hopfen-Aromasorte Cascade und macht damit einen Cider, der erst auf den zweiten Schluck von einem frischen Pils zu unterscheiden ist. In Estland bastelt Alvar Roosimaa unter dem Label Jaanihanso an sortenreinen Ciders. Und an einem Hopped Cider namens Siider. Gehopft mit dem amerikanischen IPA-Hopfen Simcoe, das Ganze unfiltriert und spontanvergoren und dementsprechend rustikal und derb. Aber unheimlich gut. In Österreich ist es wieder Toni Distelberger, der sich in seinen Mostkeller zurückgezogen und an ein paar Rezepturen herumgetüftelt hat. Das Ergebnis sind zwei frische, feinfruchtige und elegante Birnen-Ciders, beide gerade so stark mit den Hopfensorten Cascade, Styrian und Magnum aromatisiert, dass die kristallklare Birnenfrucht erhalten blieb. Das eine Produkt heißt Craft Cider – der Name der Produktlinie, der bleiben und auch künftigen Kreationen als Klammer dienen wird. Holunderblüten auf Birne zart gehopft. Genau das ist es. Ein sommerlicher, unkomplizierter und leichter Cider, der durch die dezente Hopfengabe fast wie ein sizilianischer Zitronenhain duftet. Oder Pomelo. Auf jeden Fall nach Sommer.
Der Bruder heißt Hoppy Birne, hat eine Spur mehr vom (gekochten) Bitterhopfen Magnum abbekommen und schäumt daher mehr und feiner. Sonst ist da wieder der Pils-Anklang wie bei Tom Oliver, allerdings viel feinere Klinge. Auch hier wieder: well done, Toni. Hop rocks!
Die Geschichte erschien in der Ausgabe 9 – Frühling/Sommer 2018 des 1515 Craft Bier Magazin.
Alle Bilder © Jürgen Schmücking